Was ein zerbrochenes Fenster mit Veränderungen zu tun hat

Das Bild Beautiful Decay wurde bei flickr unter der Creative Commons License von fabonthemoon veröffentlicht
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Ich befürworte Veränderungen. Ich sehe Veränderungen als wichtigen Teil der Anpassung an die eigene Umwelt. Manchmal sehnen sich Menschen nach Veränderungen, aber sehen sich nicht in der Lage sie zu initiieren. Manchmal sind Menschen ungewollt Teil einer Veränderung. Veränderungen geplant einzuleiten und sie erfolgreich zu machen, ist wohl eine Königsdisziplin, die so manchen Initiator an die Grenzen der Belastbarkeit gebracht hat. Manchmal funktionieren Veränderungen und manchmal tun sie es nicht, aber in jedem Fall sind  für eine erfolgreiche Veränderung die Voraussetzungen wichtig.

Der Tipping Point

Vor einiger Zeit las ich das Buch Tipping Point: Wie kleine Dinge Großes bewirken können von Malcolm Gladwell. Der Tipping Point ist der Punkt, an dem eine lineare Entwicklung abrupt abbricht und bspw. den Verlauf einer steigenden E-Funktion annimmt. Also der Punkt, an dem z.B. aus einer langsam wachsenden Verbreitung eine Epidemie wird. Ein schönes Video habe ich auf Youtube gefunden, das in ca. drei Minuten u.a. den Tipping Point beschreibt.

First Follower: Leadership Lessons from Dancing Guy

Die zerbrochene Fenster Theorie

Im Buch stieß ich auf das Kapitel Die Macht der Umstände, das mit einem Vorfall im Dezember 1984 beginnt. Bernie Goetz, ein bis dahin unauffälliger New Yorker, streckt vier Jugendliche, die ihn bedrängen einem von ihnen fünf Dollar auszuhändigen, im damals äußerst kriminellen New York in der U-Bahn nieder. In den 1980ern gab es in New York im Schnitt 2000 Morde und 600.000 Schwerverbrechen pro Jahr. Goetz der in Selbstjustiz handelte, wurde von der restlichen entmutigten Bevölkerung als Held gefeiert. Damals war die New Yorker U-Bahn laut Gladwell ein Platz, wo sich Kriminelle versammelten, ihr Unwesen trieben und den Rest der U-Bahn fahrenden Bevölkerung einschüchterten. Die Stationen und Züge waren schmutzig und verschmiert, die Quote der Schwarzfahrer wurde auf 170.000 geschätzt. Unter den Schwarzfahrern befanden sich ein Großteil sonst unbescholtener Bürger, die sich sagten: “Warum sollte ich zahlen, wenn es die anderen nicht tun.” Dieses Chaos färbte deutlich auf die Stadtteile ab. Diese Verbrechensentwicklung erlebte dann 1990 ihren Höhepunkt und begann danach derart steil abzufallen, während im Rest der Vereinigten Staaten die Kriminalität allmählich zurück ging.

Mitte der 1980er stellte der Betreiber der New Yorker U-Bahn einen neuen Direktor, David Gunn, ein. Gunn der ein Programm zur Erneuerung der U-Bahn leitete, geriet schnell in die Kritik, da er sich u.a. um die Entfernung von Graffitis kümmerte. Man warf ihm vor, sich nicht um die “echten” Probleme zu kümmern. Gunn war aber ein Vertreter der zerbrochenen Fenster Theorie von James Q. Wilson und George Kelling (Kelling gehörte auch zu den Beratern der U-Bahn Gesellschaft). Diese Theorie besagt, dass wenn in einem leerstehenden Haus ein Fenster eingeworfen und nicht sofort repariert wird, es relativ schnell zu weiteren Zerstörungen kommt und damit die Verwahrlosung eingeleitet wird. Die Verwahrlosung nimmt dann Einfluss auf die Umgebung und breitet sich aus. Der Kriminalität steht dann Tür und Tor offen.

Gunn, der trotz der Kritik an seinem Vorgehen festhielt, brachte nach und nach Ordnung in das New Yorker U-Bahn System. Zuerst ließ er mit aller Konsequenz die Züge mit Graffitis aus dem Verkehr ziehen. Er entwickelte sogar eine Strategie, um die Sprayer bei ihrem Stolz zu packen. Eine Session der Sprayer dauerte etwa drei Tage. Er wartete genau drei Tage ab bis sie fertig waren und ließ dann seine Mitarbeiter das Graffiti übermalen, so dass es den Sprayern zum Teil die Tränen in die Augen trieb. Diese Anti-Graffiti Kampagne dauerte von 1984 bis 1990.

In diesem Zeitraum begann William Bratton, ebenfalls ein Anhänger der zerbrochenen Fenster Theorie, als neuer Chef der Transit Police. Er kümmerte sich um die Zustände in den Stationen und um die Schwarzfahrer. Die ließ er in Gruppen in Handschellen auf dem Bahnsteig, als Zeichen für die anderen Schwarzfahrer, sammeln. Für den Zweck der Vernehmung wurde extra ein Bus umgebaut und mit Fax und Telefonen ausgestattet, um diesen Job möglichst effizient zu erledigen. Bei den Vernehmungen ergab sich, dass jeder siebte bereits wegen eines Deliktes gesucht wurde und jeder zwanzigste eine Waffe bei sich trug. Jeder noch so kleine Verstoß wurde umgehend geahndet. 1994 wurde Bratton wegen seiner Zero Tolerance Strategie vom damaligen Bürgermeister Rudolph Giuliani als Chef des New York City Police Departments berufen.

Einige Umstände waren also für den rapiden Abfall der Kriminalität in New York verantwortlich und einen wesentlichen Beitrag dazu leisteten die Anhänger der zerbrochenen Fenster Theorie Gunn und Bratton.

Aus dem Alltag

2003 wurde ich erstmals mit der zerbrochenen Fenster Theorie konfrontiert. Im Buch Der Pragmatische Programmierer von Andrew Hunt und David Thomas wurde die Theorie auf Programmiercode bezogen. Unaufgeräumter und schludrig programmierter Code, der durch mehrere Hände geht, wird bei jedem Entwickler, der sich damit erneut beschäftigt, keinen Ergeiz auslösen, die Unordnung des Vorgängers einem Refactoring zu unterziehen. Ganz wie bei den Schwarz(trittbrett)fahrerern der New Yorker U-Bahn in den 1980ern. Die Folge ist die Verwahrlosung des Codes.

Diese Theorie konnte ich über einige Jahre genau in diesem Zusammenhang beobachten. Code der keine Akzeptanz fand wurde zunehmend schlechter und neue gemeinsam geschaffene „Babies“ wurden gehegt und gepflegt und mit Vehemenz verteidigt.

Eine Veränderungsprojekt, und ich rede hier nicht nur von Code und U-Bahnhelden, kostet Kraft und Ausdauer. Es gilt den ersten Follower zu bekommen, wie in Derek Sivers YouTube Clip oben. Danach benötigt man weitere Gefolgschaft, bis der Tipping Point erreicht wird und die Veranstaltung kippt und zum Selbstläufer wird.

Diffusion of Innovations

Everett M. Rogers Buch Diffusion of Innovations, 5th Edition beschreibt, wie und wann sich Innovationen in sozialen Systemen verbreiten. Eine Grafik der Seite Diffusion of Innovations aus dem englischen Wikipedia stellt dies sehr anschaulich dar:

Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/Diffusion_of_Innovations

Die Kurve des Marktanteils beginnt steiler anzusteigen, wenn die 16% der Innovatoren und Early Adopters erreicht sind. Allerdings ist das meines Erachtens auch der schwierigste Teil der Übung. Der Zeitraum diese Gruppe zu gewinnen, benötigt Ausdauer und Zähigkeit, und darf nicht zu lange dauern, sonst verliert man sie.

Meine Theorie ist, dass Struktur als eine Form der Ordnung und Beharrlichkeit die wesentlichen Bestandteile von Veränderungsprojekten sind. Man muss zusätzlich einen Zeitpunkt abpassen, der eine günstige Umgebung liefert, wie dies zwischen 1984 und 1990 in der New Yorker U-Bahn der Fall war. Kriminalität war generell rückläufig.  Mit einigem Aufwand lassen sich zusätzlich gute Bedingungen schaffen. Brattons Zero Tolerance Strategie wurde von Gunns bereits eingeleiteter U-Bahn Säuberungsaktion vorab vorbereitet.

Die Mitwirkung der New Yorker Bürger, die vermutlich zu einem überwiegenden Anteil freiwillig beteiligt waren, sollte man nicht außer Acht lassen. Dass der Amok gelaufene Bernie Goetz so viele Befürworter fand, lässt vermuten, dass die New Yorker Bürger von der gegebenen Situation schon mächtig die Nase voll hatten. Es ist davon auszugehen, dass sie sich einen großen Teil ihrer U-Bahn zurück eroberten, nachdem Gunn und Bratton den Grundstein gelegt hatten. Die New Yorker schienen wieder Vertrauen in ihre U-Bahn zu haben.

Zusammengefasst

damit ein Veränderungsprojekt nicht zur kräftezehrenden und zermürbenden Qual wird, sind einige Elemente unerlässlich:

  • Günstige Umstände müssen vorhanden sein (oder geschaffen werden).
  • Bei den beteiligten muss Motivation existieren, diese Veränderung einzugehen.
  • Man benötigt Verbündete, die dabei unterstützen, das weitere Umfeld zu gestalten.
  • Man benötigt frühe Befürworter in einem entsprechenden Zeitraum, um den Tipping Point einzuleiten.
  • Ordnung bzw. Struktur zu schaffen und zu bewahren ist ein elementarer Bestandteil.
  • In der Durchführung muss man Konsequenz an den Tag legen.

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